Interview • 15.06.2021
„Nachfrage nach kürzeren Laufzeiten und kleineren Mengen“
Stephan Schiller, Geschäftsführer von Hermes Europe GmbH
Der E-Commerce-Handel ist seit Beginn der Corona-Pandemie über weite Strecken der einzige Verkaufskanal zum Endkunden. In 2020 stieg der Umsatz in diesem Segment um 15 Prozent. Stephan Schiller, Geschäftsführer von Hermes Europe GmbH, spricht über neue Geschäfts- und Logistikmodelle, Anforderungen an klassische Spediteure und Digitalisierungstrends.
Die Corona-Pandemie hat im E-Commerce-Handel einen weiteren Boom ausgelöst. Was bleibt von diesem zusätzlichen Volumen hängen, wenn der stationäre Handel wieder öffnet?
Die Pandemie wirkt wie ein Beschleuniger. Die Entwicklung des letzten Jahres haben wir in drei bis fünf Jahren erwartet. Wir gehen davon aus, dass das erzielte Wachstum absolut gesehen nachhaltig ist. Allerdings wird es in den nachgefragten Warenarten Veränderungen geben. Zu Beginn der Pandemie gab es eine stärkere Fokussierung auf das private Wohnumfeld. Hier wird eine Sättigung zugunsten anderer Warengruppen eintreten.
Wie hat sich das Online-Geschäft in den vergangenen Monaten verändert?
Geschäftsmodelle, die wenig digital exponiert waren, haben in den Online-Handel gedreht. Insbesondere kleine und mittelständische Einzelhändler haben sich dieses Geschäftsfeld erschlossen. Außerdem sind neue Geschäftsmodelle entstanden wie „Click & Meet“ und „Click & Collect“. Den letztgenannten Service organisiert Hermes beispielsweise als Kep-Partner von Einkaufszentren, in denen Endkunden aus der Distanz einkaufen. An einem zentralen Punkt werden die Pakete dann an Hermes übergeben und an den Endkunden geliefert.
Inwieweit verändern sich die Anforderungen an die Logistikketten?
Der Zeitfaktor hat sich im E-Commerce-Handel deutlich verschärft. In der Beschaffungslogistik aus Fernost gibt es eine signifikante Nachfrage nach kürzeren Laufzeiten und kleineren Mengen. Diese Anforderungen lösen Verlagerungen aus, zum Beispiel vom Seeschiff zur Bahn. Durch die neue Seidenstraße ist es möglich, Transitzeiten von 40 auf etwa 20 Tage zu halbieren. Dafür werden teilweise höhere Transportkosten in Kauf genommen und trotzdem kann das Flugzeug vermieden werden. Ein Ergebnis der letzten Monate ist, dass Logistik insgesamt an Wert gewonnen hat. Dies drückt sich in der Wertschätzung der Dienstleistung und im Preis aus.
„Der große Treiber ist die Erwartungshaltung des Endkunden bezüglich einer Lieferzeit von ein bis zwei Tagen.“
Welche Chancen und Herausforderungen sind damit für den klassischen Logistiker verbunden?
B2C-Konzepte spielen für den klassischen B2B-Logistiker plötzlich eine viel größere Rolle als vor der Pandemie. Er ist gefordert, Lösungen für die Distributions- und Endkundenlogistik seiner Bestandskunden zu entwickeln. Dadurch ergeben sich für ihn über die gesamte Lieferkette viel kleinteiligere Strukturen. Er hat aber das Plus, dass er über seine digitalen Möglichkeiten schnell Softwarelösungen schaffen kann, um an diesem Markt zu partizipieren. Denn unter dem Strich ist der Prozess ähnlich aufgebaut, egal ob mit einer Reederei, einer Fluggesellschaft oder jetzt mit dem Endkunden digitalisiert Nachrichten ausgetauscht werden.
Im Zusammenhang mit E-Commerce fällt auf Logistikseite zunehmend der Begriff Fulfillment. Ist das eine neue Dienstleistung?
Fulfillment ist eine klassische Logistikdisziplin. Nur sind die Anforderungen an das Fulfillment im E-Commerce bei ausgesprochen hohen Mengen oft kleinteiliger und die Dienstleistung wird von großen Händlern oder Marktplätzen teilweise in Eigenregie erbracht. Ein wichtiger Schaltpunkt ist außerdem die Integration des B2B- und B2C-Prozesses. Ich glaube, dass die deutsche Logistikstruktur dafür nicht schlecht aufgestellt ist. Die großen E-Commerce-Marktplätze haben es aber einfacher. Sie bilden den kompletten Prozess von A bis Z ab. Kleinen und mittelständischen Händlern diese unterschiedlichen Logistikdienstleistungen aus einer Hand anzubieten und dabei Transparenz herzustellen, sind die künftigen Anforderungen an Logistiker.
Welche Trends sehen Sie IT-seitig im E-Commerce-Handel?
Eines der Kernthemen ist die Datenverfügbarkeit auf der Beschaffungs- und Logistikseite, um über Simulationen Vorhersagen für den Verkaufszeitpunkt zu machen. Der Händler möchte frühestmöglich evaluieren, wann er einen Artikel auf der Internet-Plattform zum Verkauf und Versand anbieten kann. Der große Treiber ist die Erwartungshaltung des Endkunden bezüglich einer Lieferzeit von ein bis zwei Tagen.
Wann werden sich die Prognosetools für die Warenverfügbarkeit etabliert haben?
Ich rechne damit, dass solche digitalen Werkzeuge in etwa zwei Jahren breit anwendbar sein werden.
Vermissen Sie den klassischen Einkaufbummel?
Ich persönlich habe meine Grundbedürfnisse schon früh auf online umgestellt. Allerdings vermisse ich die Freiheit, selbst zu entscheiden, was ich möchte. Das betrifft nicht nur das Einkaufsverhalten, sondern die gesamte Lebenssituation. Die fehlende Mobilität ist für mich die größte Einschränkung. Darunter leidet beruflich gesehen auch die Qualität. Denn für die großen Innovationen braucht es aus meiner Sicht das klassische Format von Präsenzterminen mit Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern.
Bildquelle: Hermes
Über Stephan Schiller
Der gebürtige Hamburger ist seit 2018 als Geschäftsführer bei Hermes Europe für die internationalen Aktivitäten der Hermes Gruppe verantwortlich. Seine Karriere startete Schiller 1992 mit einer Ausbildung zum Schifffahrtskaufmann, berufsbegleitend studierte er an der Hamburg School of Shipping and Transportation Schifffahrt und Logistik. Nach diversen Positionen in der Unternehmensgruppe DAL Deutsche Afrika-Linien/John T. Essberger, wurde er 2001 zum Geschäftsführer ernannt.
Mit Schillers Unternehmenseintritt bei Hermes Transport Logistics in 2010 wurde der Bereich Sea & Air neu geschaffen. Nachdem er als Bereichsleiter die Produktion und den Aufbau sämtlicher See- und Luftfracht-Aktivitäten verantwortete, führte der Manager seit Juli 2014 die Geschäfte im Bereich Sea & Air Freight. Nach Umfirmierung und Verschmelzung stand Schiller der Hermes Germany GmbH ab Juni 2016 als Geschäftsführer dem Ressort International/Supply Chain Solutions vor.
In seiner heutigen Position als Geschäftsführer von Hermes Europe und CEO von Hermes International treibt er das internationale Wachstum voran und setzt dabei auf die Entwicklung von ganzheitlichen Supply Chain- und E-Commerce-Lösungen sowie die digitale Optimierung der Zoll- und Abwicklungsprozesse.